- Russland: Die Expansion nach dem Krimkrieg
-
Die Kapitulation der monatelang umkämpften Festung Sewastopol am 9. September 1855 stürzte das Zarenreich in eine schwere Krise. Das nikolaitische Herrschaftssystem hinterließ eine drückende Erblast. Der innergesellschaftliche Frieden war ernsthaft gefährdet. Zahlreiche Probleme harrten einer dringenden Entscheidung. Auf dem neuen Zaren Alexander II. ruhten die Hoffnungen der geschundenen leibeigenen Bauern auf eine bessere Zukunft und die Freiheitserwartungen der Fremdvölker des Reichs.An eine Fortsetzung der offensiven Außenpolitik war unter den gegebenen Umstän-den vorerst nicht mehr zu denken. Die Auflagen der alliierten Siegermächte, die im Frieden von Paris 1856 festgeschrieben worden waren, stoppten das weitere Vordringen Russlands auf der Balkanhalbinsel. Russland blickte fortan nach Osten und fand in seinem ungebrochenen Expansionsdrang in Mittelasien und Fernost ein weites Betätigungsfeld. Die eurasische Perspektive bot Erfolg versprechende Zukunftsvisionen an. Slawophile Kreise waren nicht abgeneigt, aus dem gottgegebenen Auftrag einer »zivilisatorischen Mission« Russlands in Asien die moralische Rechtfertigung für eine offensive Außenpolitik abzuleiten.Voraussetzung dazu war die Befriedung des Kaukasus. Mehrmals sah sich die russische Militärmacht durch Aufstandsbewegungen unter den Tschetschenen und den kriegerischen Stämmen Dagestans herausgefordert. Imam Schamil erprobte seit den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts eine erfolgreiche Guerillataktik und trotzte in seiner Bergfestung über zwei Jahrzehnte den zahlenmäßig überlegenen russischen Streitkräften.Seit 1856 suchte der neu ernannte Statthalter des Zaren im Kaukausus, Generalfeldmarschall Aleksandr Iwanowitsch Barjatinskij, eine gewaltsame militärische Entscheidung zu erzwingen. 1859 eroberten russische Truppen Wedeno, die Residenz Schamils, und nahmen den legendären Aufstandsführer gefangen. Der Widerstand der Tscherkessen im Westkaukasus konnte erst nach einem längeren Kleinkrieg 1864 gebrochen werden.Russlands Expansion zum PazifikRusslands Aufbruch nach Asien war schon seit dem 16. Jahrhundert vorgezeichnet. Nach anfänglichen Rückschlägen war die Besetzung Sibiriens innerhalb weniger Jahrzehnte abgeschlossen und durch die Anlage von Stützpunkten — unter anderem Tjumen 1586 und Tobolsk 1587 — gesichert worden. Ein halbes Jahrhundert später drangen kosakische Vorausabteilungen unter Iwan Moskwitin 1639 bis an die Küste des Ochotskischen Meeres vor und erreichten erstmals die Küste des Pazifiks. 1647 bis 1649 wurde der Stützpunkt Ochotsk angelegt.Im Amurgebiet und am Ussuri gerieten die moskowitischen Eindringlinge wiederholt in Grenzkonflikte mit dem chinesischen Mandschureich, die erst 1689 im Vertrag von Nertschinsk durch jesuitische Vermittlung beigelegt werden konnten. 1741 war der dänische Asienforscher in russischen Diensten Vitus Jonassen Bering auf seiner zweiten Kamtschatka-Expedition erstmals an der Küste Alaskas gelandet. Pelztierjäger und Fallensteller waren maßgeblich an der wirtschaftlichen Erschließung Russisch-Amerikas beteiligt. Die Leitungskompetenz übernahmen Vertreter der Russisch-Amerikanischen Kompanie, die 1799 als Aktiengesellschaft gegründet worden war.Nach der von den USA erzwungenen Öffnung der japanischen Häfen im Jahre 1854 war Russland im Fernen Osten an Absprachen mit den Nachbarstaaten interessiert. Der russisch-japanische Handels- und Grenzvertrag von 1855 sah eine Teilung der Kurileninseln und eine gemeinsame Verwaltung der Insel Sachalin vor. 1875 tauschte Russland unter Verzicht auf die gesamten Kurileninseln Sachalin ein. Die Differenzen mit China konnten erst nach mühsamen Verhandlungen beigelegt werden. Der Generalgouverneur von Ostsibirien, Nikolaj Nikolajewitsch Murawjow, hatte mit seinem eigenmächtigen Vorstoß und der Gründung der Festung Chabarowsk an der Ussurimündung einen erneuten Streit um das Amurgebiet vom Zaun gebrochen. Im Vertrag von Aigun erzwang er 1858 die Abtretung des linken Amurufers vom Argunfluss bis zur Mündung. Im Vertrag von Peking 1860 gewann er das strittige Gebiet zwischen Ussuri und der Pazifikküste, die Küstenprovinz, hinzu.Mit der Benennng des 1860 gegründeten Wladiwostok (»Beherrsche den Osten«) meldete Russland unmissverständliche Ansprüche in der pazifischen Region an. Der wenig später ausgehandelte Verkauf Alaskas an die USA 1867 diente nur einer längst fälligen Frontbegradigung. Russisch-Amerika hatte zu diesem Zeitpunkt seine Bedeutung als wirtschaftlicher Außenposten Russlands auf dem nordamerikanischen Kontinent schon längst eingebüßt.Grenzsicherung und Kolonialismus Russlands in ZentralasienBeim Vordringen Russlands nach Mittelasien in der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sicherheitspolitische und strategische Argumente den Vorrang vor wirtschaftlichen Erwägungen. Die instabilen Herrschaftsverhältnisse unter den Hirtennomaden in der Kasachensteppe waren zu einem schwer erträglichen Störfaktor geworden.Auf russischer Seite waren zur Sicherung der Steppengrenzen im südlichen Sibirien die Festungen Omsk im Jahre 1716 und Semipalatinsk 1718 angelegt worden. 1735 wurde im südlichen Ural die Orenburger Verteidigungslinie eingerichtet und durch die Ansiedlung wehrhafter Kosakenverbände befestigt. Die Steppenzone war aber nur schwer unter Kontrolle zu halten. Die sozialen Konflikte drohten auf die russischen Grenzgebiete am Ural und in Sibirien überzugreifen. Deshalb schritt man in der Regierungszeit Nikolaus I. (1825—55) zu einer etappenweisen Inkorporierung des Kasachenterritoriums. Die Khane wurden abgesetzt und ihr Herrschaftsbereich der sibirischen Verwaltung unterstellt.Noch während des Krimkriegs bereiteten russische Grenzkommandanten weitere Eroberungszüge vor. Der Orenburger Gouverneur Wassilij Perowskij, der schon 1839/40 einen missglückten Kriegszug gegen Chiwa befehligt hatte, bemächtigte sich 1853 der Grenzfestung Ak-Metschet am Syrdarja (später nach ihm Perowsk benannt, heute Ksyl-Orda) zum Khanat von Kokand. Im Siebenstromland diente seit 1854 die Festung Wernyj — das heutige Alma-Ata — als militärische Ausgangsbasis für weitere Operationen in den angrenzenden Wüstengebieten, die vom Khanat von Chiwa südlich des Aralsees, vom Khanat von Kokand und dem Emirat von Buchara beherrscht wurden.Der »Löwe von Taschkent«Graf Nikolaj Pawlowitsch Ignatjew hatte 1857 auf einer Sondierungsreise Chiwa und Buchara besucht und einen Eindruck von den inneren Zuständen der Steppenreiche gewinnen können. Als Leiter des Asiatischen Departements im Außenministerium von 1861 bis 1864 sprach er sich unverhohlen für eine offensive militärische Sicherung der russischen Handelsinteressen in Mittelasien und für eine Vorverlegung der Grenzen aus. Einen willigen Erfüllungsgehilfen fand er in General Michail Grigorjewitsch Tschernajew. Der spätere »Löwe von Taschkent« hatte nützliche Fronterfahrung in den Kaukasuskämpfen gesammelt. Er teilte die panslawische Gesinnung Ignatjews ebenso wie dessen bornierte Geringschätzung der Steppennomaden. In der Steppe fand er den nötigen Freiraum für seine eigenen Ambitionen.1864 beauftragte ihn der Kriegsminister, von Wernyj aus Aulije-Ata (das heutige Dschambul), einen Kreuzungspunkt von Handelswegen, zu besetzen, während General Nikolaj Werewkin von Perowsk aus aufbrach, um die Festung Turkestan zu erobern. Der erfolgreiche Abschluss des Unternehmens verschaffte dem Russischen Reich strategische Vorteile entlang einer befestigten Verteidigungslinie, die von der Syrdarjaregion bis nach Westsibirien verlief.Tschernajew gab sich mit dem Erreichten nicht zufrieden. Ohne weitere Instruktionen aus Omsk abzuwarten, bemächtigte er sich in einem Überraschungscoup der Zitadelle Tschimkent. Am 8. Mai 1865 stand er mit 1300 Mann und 12 Kanonen vor Taschkent und erzwang am 17. Juni 1865 die bedingungslose Kapitulation.Die russische Öffentlichkeit feierte den Sieg Tschernajews als heroische Tat. Für dessen weitere militärische Karriere hat er sich nicht ausgezahlt. Tschernajew verbrachte die nächsten acht Jahre im Wartestand und sparte in publizistischen Verlautbarungen nicht mit bitteren Kommentaren zu den weiteren Vorgängen in Turkestan. Der Ausbruch der großen Orientkrise 1875 bot ihm nochmals die unerwartete Chance, seine Führungsqualitäten zu beweisen. Er meldete sich sehr zum Unwillen der russischen Regierung als freiwilliger Kriegsteilnehmer in Belgrad und übernahm den Oberbefehl über die serbische Armee. Das Kommandounternehmen verstand er als Kreuzzug der Slawen. Es endete im Oktober 1876 in einer katastrophalen Niederlage der Serben.Expansive GrenzsicherungFür die Politik Russlands in Mittelasien ist der Fall Tschernajew symptomatisch. Der Dienst auf vorgeschobenen Außenposten ließ naturgemäß den Grenzkommandanten einen erheblichen Handlungsspielraum. Über die kaum mehr steuerbaren gleitenden Übergänge zwischen präventiver Grenzverteidigung und planmäßiger Expansion gaben sich die verantwortlichen Leiter der russischen Außenpolitik keinen Illusionen hin. Bei der Endabrechnung zählte allein der Erfolg.Tschernajews Alleingang vor Taschkent hat das Tor in das südliche Mittelasien weit aufgestoßen. Russland wurde fortan als Ordnungsmacht und als interessierter Handelspartner unweigerlich in die Auseinandersetzung mit den rivalisierenden Nomadenstämmen hineingezogen und zu einer fortschreitenden Ausweitung der Staatsgrenzen verleitet. Die Koordinierung der Einzelaktionen lag seit 1867 bei General Konstantin Peter von Kaufmann. Er hielt als Generalgouverneur des neu geschaffenen Gouvernements Turkestan, das zunächst nur die nördlichen Gebiete des Khanats von Kokand umfasste, über eineinhalb Jahrzehnte von 1867 bis 1882 die Fäden in der Hand. In dieser Zeit wurde die völlige Unterwerfung der Gesamtregion zwischen Kaspischem Meer und chinesischer Grenze weitgehend zum Abschluss gebracht und 1868 Samarkand, 1873 Chiwa und 1876 Fergana in das Russische Reich eingegliedert.Als erster Schritt zur Annexion der transkaspischen Steppenregion wurde 1869 am Ostufer des Kaspischen Meeres die Festung Krasnowodsk angelegt. Gegen die russischen Eindringlinge leisteten die ansässigen turkmenischen Stämme hartnäckigen Widerstand. Er konnte erst 1881 gebrochen werden. Die äußeren Grenzen der Machtausdehnung Russlands im südlichen Mittelasien waren 1884 mit der Besitznahme der Oase von Merw erreicht.Russischer KolonialismusMit Rücksicht auf die britischen Interessen in Afghanistan und die russisch-britische Rivalität in Persien begnügte sich Russland in Mittelasien mit einer indirekten Herrschaft. Der Emir von Buchara und der Khan von Chiwa behielten formal ihre ererbten Herrschaftsrechte auf einem durch Gebietsabtretungen reduzierten Territorium bei. Sie mussten sich allerdings einer rigorosen Aufsicht unterstellen.Zur Verwaltung der eroberten Gebiete wurden zwei Generalgouvernements eingerichtet. Der Generalgouverneur vereinte in seiner Hand das oberste Kommando der Streitkräfte und die Aufsicht über die Zivilverwaltung. Das Generalgouvernement Turkestan mit der Hauptstadt Taschkent wurde 1867 geschaffen. Aus den nördlich angrenzenden Gebieten von Akmolinsk, Semipalatinsk und dem Siebenstromland bildete man bei der Auflösung des Westsibirischen Generalgouvernements im Jahre 1882 die »Steppenregion«, die von Omsk aus verwaltet wurde. 1881 entstand ein eigenes Transkaspisches Gebiet mit dem Zentrum in Aschchabad. Es wurde 1897 an das Generalgouvernement Turkestan angeschlossen.Russland verzichtete auf eine weitergehende Integration der Nomadengebiete. Die russische Herrschaft in Mittelasien war von dem stolzen Bewusstsein zivi- lisatorischer Überlegenheit getragen und nahm unverkennbar koloniale Züge an. In das soziale Gefüge der Nomadengesellschaft haben die russischen Kolonialherren kaum eingegriffen. Urteile in Strafprozessen wurden in den Dörfern, den auls, weiterhin nach den Regeln des überlieferten muslimischen Gewohnheitsrechts gefällt. Russische Beamte saßen in den zentralen Verwaltungseinrichtungen. Sie haben in Teilbereichen durch das Verbot des Sklavenhandels und brutaler Körperstrafen zu einer Humanisierung der Lebensbedingungen beigetragen. Die Segnungen des neuen russischen Besteuerungssystems und der weit reichenden Landreform sind allerdings wegen der verbreiteten Korruption den Dorfbewohnern kaum zugute gekommen.Die ökologischen und wirtschaftlichen FolgenZentralasien zählte zu den bevölkerungsärmsten und rückständigsten Regionen des Zarenreiches. Der wirtschaftliche Nutzen beschränkte sich weitgehend auf die Erträge der einheimischen Baumwollproduktion. Diese deckten gegen Ende des Jahrhunderts 80 Prozent des jährlichen Bedarfs im Reich. Die russische Textilindustrie gewann so einen Standortvorteil gegenüber der britisch- indischen Konkurrenz. Diese einseitige Ausrichtung auf die Bedürfnisse des Abnehmers hatte auf längere Sicht negative ökologische und wirtschaftliche Folgen. Sie behinderte die notwendige Umstrukturierung und Modernisierung der Landwirtschaft und engte die Anbaumöglichkeiten für Feldfrüchte erheblich ein. Die Ernährung der Bevölkerung aus der eigenen Landwirtschaft war nicht mehr gewährleistet. Für die Entwicklung der Infrastruktur gewann seit den Achtzigerjahren der Eisenbahnbau eine herausragende Bedeutung. Die Transkaspische Magistrale, deren Bauarbeiten 1881 begannen, stellte nach ihrer Vollendung eine direkte Eisenbahnverbindung vom Kaspischen Meer über Merw und Samarkand bis Taschkent und dem Ferganatal her. Der Endpunkt Andischan wurde 1899 erreicht. 1905 erfolgte über die Bahnlinie Orenburg —Taschkent eine Anbindung an das innerrussische Eisenbahnnetz.Existenzkrise des ZarismusUnter der Ägide von Sergej Juljewitsch Graf Witte, von 1892 bis 1903 Finanzminister, gewann die Ostexpansion Russlands eine völlig neue Dimension. Ihn faszinierte der Gedanke von einem die Kontinente verbindenden Schienenstrang, der sich als staatliches Steuerungsinstrument zur Erschließung der Ressourcen und zur friedlichen Durchdringung des asiatischen und fernöstlichen Raumes einsetzen ließ. Folgerichtig zählte Witte zu den eifrigsten Befürwortern jenes gigantischen Eisenbahnprojektes der Transsibirischen Eisenbahn (Transsib), das in einer Bauzeit von nur 25 Jahren (1891—1916) verwirklicht wurde. Die Transsib durchquert auf der längsten Schienenstrecke der Welt ganz Russisch-Asien von Tscheljabinsk im Ural bis nach Wladiwostok an der Pazifikküste. Der Streckenbau in einem schwierigen Gelände bot jahrelang Tausenden von Helfern Arbeit und Brot. Im Umfeld der zahlreichen Eisenbahndepots und Werkstätten entwickelten sich feste Ansiedlungen, deren Bewohner handwerkliche Fertigkeiten und urbanen Lebensstil mitbrachten und unter der ansässigen Bevölkerung verbreiteten. Ein selbsttragender wirtschaftlicher Aufschwung würde, so die Hoffnung Wittes, ein solides Fundament für die machtpolitische russische Präsenz in Ostasien legen. In seinen Zukunftsvisionen war dem Zarenreich eine weltpolitische Führungsaufgabe und eine Schiedsrichterrolle zwischen Europa und Asien zugedacht.Der Partner ChinaDie Furcht vor einem übermächtigen Japan und die Verlockungen des chinesischen Marktes ließen Witte im chinesisch-japanischen Konflikt um Korea 1895 auf die chinesische Karte setzen. Russland intervenierte gemeinsam mit Frankreich und Deutschland. 1896 wurde in Moskau ein förmlicher Bündnisvertrag mit China unterzeichnet. Witte initiierte noch im gleichen Jahr die Gründung einer russisch-chinesischen Bank unter französischer Beteiligung und erreichte die Konzession für den Bau einer Bahnlinie durch die Mandschurei. Diese Ostchinabahn, die von 1897 bis 1901 vollendet wurde, führte auf der direkten Wegstrecke von Transbaikalien über Harbin nach Wladiwostok.Das Einvernehmen mit der chinesischen Regierung zahlte sich aus. Russland dehnte sehr zum Missfallen der Briten und der Japaner seinen wirtschaftlichen Einfluss auf die Mongolei und die Mandschurei aus.Der Russisch-Japanische KriegDer Boxeraufstand in China 1900/01 bot Russland eine günstige Gelegenheit, im Zusammenwirken mit den westlichen Großmächten seine nordchinesische Einflusssphäre zu festigen. Die Regierung manövrierte sich aber wegen der ungelösten Koreafrage und des verzögerten Truppenabzugs aus der Mandschurei immer mehr in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu Japan. Die Entlassung Wittes im August 1903 beraubte den Zaren zudem eines Ratgebers, der die ökonomische Schwäche des Reichs kannte und in den Außenbeziehungen zur Mäßigung riet. In völliger Fehleinschätzung der eigenen militärischen und finanziellen Möglichkeiten steuerte die russische Regierung einen Konfrontationskurs, der schließlich die brüskierten Japaner zu einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen und zu einem Präventivschlag gegen Port Arthur veranlasste.Der verlustreiche Russisch-Japanische Krieg von 1904/05 endete mit einem völligen Fiasko der bisherigen Ostasienpolitik Russlands. Das hartnäckig verteidigte Port Arthur musste nach 157-tägiger Belagerung am 2. Januar 1905 kapitulieren. Die aus der Mandschurei anrückende russische Fernostarmee unterlag in der mehrtägigen Schlacht bei Mukden — dem heutigen Shenyang — vom 19. Februar bis 10. März 1905. Die stolze Ostseeflotte, die im Mai 1905 in der Tsushimastraße aufkreuzte, ging im Sperrfeuer der japanischen Seestreitkräfte unter. Das gedemütigte Russland sah sich genötigt, die Vermittlung des amerikanischen Präsidenten anzunehmen. Im Friedensvertrag von Portsmouth (New Hampshire) vom 5. September 1905 erkannte Russland die vorherrschenden Interessen Japans in Korea an, trat den Südteil Sachalins ab und verzichtete zugunsten Japans auf die bestehenden Pachtrechte in Port Arthur und auf der Halbinsel Liaodong.Die Grenzen der ZarenmachtAngesichts der sich häufenden Schreckensmeldungen vom fernöstlichen Kriegsschauplatz war die patriotische Hochstimmung in der russischen Öffentlichkeit sehr rasch verflogen. Die Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen trieb die Arbeiter der Hauptstädte auf die Straße. Am 22. Januar 1905 wollte ein friedlicher Demonstrationszug in Sankt Petersburg dem Zaren eine Petition der Arbeiterbevölkerung überreichen. Wachmannschaften versuchten, den Zug vor dem Winterpalais aufzuhalten, und feuerten schließlich planlos in die Menge. Dieser »Blutsonntag« löste eine landesweite Protestbewegung aus und stürzte das Zarenregime in eine schwere Existenzkrise. Die wachsenden Unruhen in allen Landesteilen, die auch vor den Kasernen nicht mehr Halt machten, und ein Generalstreik zwangen im Herbst 1905 den Zaren zum Einlenken. Im Oktobermanifest vom 17./30. Oktober 1905 — das erste Datum ergibt sich aus dem älteren julianischen Kalender, der in Russland bis 1918 Gültigkeit besaß — gestand er eine Abkehr vom autokratischen Herrschaftssystem und die Wahl einer Volksvertretung, russisch duma, zu.Die Begleitumstände der Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg haben dem Ansehen Russlands schweren Schaden zugefügt. Die Weltöffentlichkeit musste überrascht zur Kenntnis nehmen, dass der Machtanspruch des Zarismus auf tönernen Füßen stand und er sein selbstherrliches Auftreten in Ostasien nur einem »geborgten Imperialismus« schuldete, wie es Dietrich Geyer in seinem Buch »Der russische Imperialismus« 1977 formulierte. Der enorme Landzuwachs während der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in Mittelasien und im Fernen Osten hatte nicht den erhofften ökonomischen und strategischen Gewinn eingebracht. Die Kosten überforderten die Finanzkraft des Reichs. 1906 konnte der drohende Staatsbankrott in letzter Minute nur noch durch eine Sanierungsanleihe abgewendet werden. Die Eingliederung einer vornehmlich muslimischen Nomadenbevölkerung in den zaristischen Untertanenverband stellte die Integrationsfähigkeit des russischen Vielvölkerreichs auf eine harte Probe. Nach der Volkszählung des Jahres 1897 waren die Muslime mit 11 Prozent der Gesamtbevölkerung zur zweitgrößten Glaubensgemeinschaft innerhalb des Russischen Reichs angewachsen. Während der revolutionären Ereignisse des Jahres 1905 sind erste Ansätze einer panislamischen Bewegung unter der turkotatarischen Bevölkerung erkennbar geworden.Nach der militärischen Niederlage des Jahres 1905 war in den Außenbeziehungen vorsichtige Zurückhaltung angesagt. Im Fernen Osten behauptete das Zarenreich die Küstenprovinz und die Ostchinabahn. In Mittelasien suchte man den Ausgleich mit Großbritannien. Der Petersburger Vertrag vom 18./31. August 1907 grenzte die beiderseitigen Interessensphären in Persien ab. In Afghanistan erkannte Russland die britischen Vorrechte an. Die Vereinbarungen bildeten eine wesentliche Grundlage für die Festigung der Bündnissysteme in Europa und die Einbindung Russlands in die Politik der Entente gegen die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn.Prof. Dr. Edgar HöschWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Russland: Vom Zarenreich zur OktoberrevolutionGrundlegende Informationen finden Sie unter:Russlands Aufstieg (seit 1682): Großmacht im OstenRussland in Sibirien: Der Griff nach dem OstenGeyer, Dietrich: Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang von innerer und auswärtiger Politik 1860-1914. Göttingen 1977.Hayit, Baymirza: Turkestan zwischen Rußland und China. Eine ethnographische, kulturelle und politische Darstellung zur Geschichte der nationalen Staaten und des nationalen Kampfes Turkestans im Zeitalter der russischen und chinesischen Expansion vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. Amsterdam 1971.Hötzsch, Otto: Rußland in Asien. Geschichte einer Expansion. Stuttgart 1966.Sarkisyanz, Emanuel: Geschichte der orientalischen Völker Rußlands bis 1917. Eine Ergänzung zur ostslawischen Geschichte Rußlands. München 1961.
Universal-Lexikon. 2012.